Neulich hing hier in #Flingern am Zugang zum Hermannplatz eine durchsichtige Kiste, deren eingebrannte Aufschrift auf ihrer hölzernen Abdeckung fast vollständig zugeschneit war. Was man lesen konnte, war etwas von Kunsthochschule. Drin befand sich allerlei Zeugs: Eine Apfelkitsche, Müll und so weiter. Ich ging daran vorbei und begann beim Anstehen am Gemüsestand darüber nachzudenken. Offensichtlich hat ein Kunststudent diese Kiste dort angebracht, als Projekt, wahrscheinlich mit der Bitte, etwas nicht weiter definiertes in der Kiste zu werfen. Gegenüber ist eine Hauptschule, es war also damit zu rechnen, dass sich dort eher kein Geldkoffer einfinden würde, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens eine Apfelkitsche und etwas Müll – Teenager sind so vorhersehbar.

Nun nahm ich einfach mal an, dass die Schüler, die den Müll dort wahrscheinlich eingeworfen hatten, dies in der für Teenager typischen naiven Annahme taten, die Kiste zu missbrauchen bzw. in einem dem Ansehen innerhalb ihrer Bezugsgruppe zuträglichen Sinne zweckzuentfremden. Dass sie damit genau das in Wirklichkeit nicht taten, sondern wohl (wiederum meine Annahme) dem Künstler genau in die Hände spielten, ist für sie dabei unerheblich. Eine schöne Win-Win-Situation. Ein drittes Win kommt – nebenbei bemerkt – in meinen Augen hinzu, wenn eher konservativ eingestellte Passanten dies ebenfalls missverstehen und sich über die destruktive Jugend ärgern und damit ironischerweise sogar irgendwie Recht haben, denn so war es ja auch gemeint.

Egal, darauf wollte ich nicht hinaus, sondern auf meinen Gedankengang, der mich später am Tag beschäftigte und der mich auf eine interessante Begrifflichkeit brachte: Die Coolness-Abritrage. Für Menschen, denen die Qual eines Wirtschaftsstudiums erspart geblieben ist:

Arbitrage (von französisch arbitrage, von lat. arbitratus „Gutdünken, freie Wahl, freies Ermessen“) bezeichnet das Ausnutzen von Preisunterschieden für gleiche Waren auf verschiedenen Märkten.

Infolge der ausgleichenden Wirkung der Arbitrage passen sich die Preise in verschiedenen Märkten einander an; dieser Vorteil existiert in der Regel nur eine bestimmte Zeit lang.

Wikipedia

Coolness-Arbitrage ist also ein Konzept, bei dem jemand die Unkenntnis seines Publikums über irgendwie geartet coole Ideen nutzt, um selbst Coolness-Punkte abzuräumen, ohne echte eigene Ideen zu haben. Das ist ein Prozess, der ständig und überall passiert, denn coole, witzige, neue, frische Ideen sind begrenzt und der Markt dafür zerfasert und unübersichtlich. Wir kennen alle die Leute, die uns früher lustige Kettenmails weitergeleitet haben. Das war eine simple Form des Konzepts, denn a) war es offensichtlich, dass die Witze oder Bilder nicht von den Personen selbst erdacht oder gesammelt wurden und b) war die Schöpfungshöhe auch meistens nicht so wahnsinnig hoch. Trotzdem kam es selten vor, dass man eine dieser Mails ein zweites Mal bekam. Ein etwas jüngeres Beispiel sind die Giveboxen. Wann immer jemand in einem Stadtteil so eine Givebox aufstellt, die ganz und gar nicht seine Idee ist, erntet er dennoch Anerkennung von den meisten Leuten im Stadtteil, denn für die ist die Idee komplett neu, leuchtet ein und ist frisch, frech und hip. Damit ist der Aufsteller für diese eben auch frisch, frech, hip und hatte eine gute Idee. Da muss ich sofort an die oben beschriebene Arbitrage denken, denn der Gewinn für denjenigen speist sich einzig und allein daraus, dass er eine Idee von einem Markt entnimmt und im einem anderen Markt einführt, der auf den ursprünglichen Markt keinen direkten Zugriff hat. Der Coolnessgewinn ist also eine Folge der Kenntnis von und der (zumindest konsumierenden) Präsenz auf fremden Märkten. Coolness-Anerkennung einer Bezugsgruppe basiert also in den weitaus meisten Fällen auf mangelnder Markttransparenz und dem Arbeits- und Zeitinvestment der coolen Person, sich mit coolen Ideen auf anderen Märkten auseinanderzusetzen.

Das ist an sich wenig überraschend, aber so konkret habe ich tatsächlich noch nicht darüber nachgedacht. In diesem Internet gibt es eine menge Orte, an denen man sich frische Ideen besorgen kann und diese Jagtgründe sind weit genug, dass es ein Leichtes ist, selbst in der hipsten Bezugsgruppe noch unbekannte Ideen einzubringen. Und noch ein Aspekt spielt denjenigen in die Hände, die von der Coolness-Arbitrage profitieren möchten: Es gibt – wahrscheinlich gruppendynamisch bedingt – oft nur einen schmalen Übergangsbereich zwischen der Neuheit einer eingeführten Idee und der Umwandlung einer witzigen oder überraschenden Idee in ein Mem, das angemessen zu bedienen ebenfalls keine allzu großen Hürden für die Kreativität darstellt. Man muss also nur aufpassen, dass man nicht in diese kleine Lücke fällt oder den Bogen überspannt. Das ist mit ein wenig Einfühlungsvermögen leicht zu verhindern.

Worauf will ich nun hinaus? Dass man kein Künstler sein muss und auch nicht sonderlich kreativ, um mit coolen Ideen zu überraschen? Ja, das vielleicht auch. Aber eigentlich bin ich gedanklich nur weiter der Entstehung von #Coolness auf der Spur, eine Sache, die mich schon mein Leben lang beschäftigt. Die Ausformulierung des Konzepts der Coolness-Arbitrage ist dabei nur ein weiterer Begrenzungspfahl auf dem Weg zur Erkenntnis.

P.S. Wie war da eigentlich vor diesem Internet? Also bevor Tumblr, Twitter, 4Chan und Co. uns täglich reihenweise frische Anregungen auf den Bildschirm zauberten? Gab es früher mangels externer Inspiration absolut gesehen mehr originäre Coolness? Ich vermute mal eher nicht, warum auch? Gab es insgesamt weniger Coolness? Weniger von dieser kurzlebigen #Hipster-Coolness bestimmt. Hielt Coolness länger? Musste sie dann wohl. Hält originäre Coolness allgemein länger, weil Arbitrage-Möglichkeiten immer nur begrenzt lange halten? Ich vermute mal stark ja. Ist das wieder so eine Long-Tail-Sache? Ich vermute mal stark ja. Ich habe den Eindruck, dass Coolness-Trends früher viel Mainstreamiger waren und viel mehr Leute beeinflusste. Heute ist das scheinbar viel ausdifferenzierter. Fällt es dadurch leichter, dass Coolness-Anerkennung auch zwischen stark unterschiedlichen Bezugsgruppen fließt? Ich behaupte mal, genau das ist der Zeitgeist der Dekade: Individuelle #Authentizität ist Trumpf und mehr Wert als Mainstream-Konformität. Früher hatten Punks die Hippies doof zu finden. Heute ist das viel versöhnlicher und von mehr Respekt geprägt, nehme zumindest ich so wahr. Wer wissen will, was da mein Bild prägt, untersuche mal intensiv etwa die zumindest in der ersten Staffel großartige Serie Girls auf diesen Aspekt hin genauer. Wenn ich mich recht erinnere, ist auch das wegen Plagiatsvorwürfen etwas zu Unrecht in Verruf geratene Buch Axolotl Roadkill von Helene Hegemann ein interessantes Indiz in dieser Richtung. Sollte man gelesen/gehört haben. Diese Plagiatssache ist eine ebenfalls interessante Ausprägung des Coolness-Arbitrage-Konzepts, fällt mir gerade auf.

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